Kreisstadt. 140 Termine absolviert Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Bundestagswahlkampf. Sehr zur Zufriedenheit von Andrea Nahles. "Ich kann als Generalsekretärin nicht behaupten, dass das alle machen", sagt die SPD-Bundestagskandidatin für den Wahlkreis 199.
Über diesen einen Termin dürfte sie besonders froh gewesen sein, nämlich den gemeinsamen am Freitag in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Bevor die beiden SPD-Spitzenpolitikerinnen auf Tuchfühlung mit der Bevölkerung gingen, besuchten sie die Redaktion der Rhein-Zeitung. Und trafen dort auf die gut vorbereitete Jugendredaktion, die den Wahlkampf aus dem Blickwinkel junger Wähler begleitet. Deren Fragen stellten sich Andrea Nahles und Hannelore Kraft in einem halbstündigen Gespräch.
Miró (22): Ihre Partei hat den Aktionstag "Kitas statt Betreuungsgeld" veranstaltet. Ich bin Erzieher und frage mich: Warum sollte den Familien die Entscheidung genommen werden?
Kraft: Wir SPD-Politiker wollen niemandem vorschreiben, wie er oder sie sich zu entscheiden hat. Aber eine echte Wahlfreiheit gibt es nur dann, wenn für alle, die einen Kita-Platz wollen, auch ein Platz da ist. Das hat oberste Priorität, und deshalb muss das Geld dafür zur Verfügung gestellt werden, Plätze zu schaffen, und zwar qualitativ hochwertige Plätze.
Nahles: Wir könnten das überhaupt nicht für Familien entscheiden. Das wäre verrückt. Ich will ja auch nicht, dass jemand für mich entscheidet, wie ich das mit meiner Tochter mache. Die Frage lautet: Ist das Geld nicht völlig falsch investiert? Das ist unsere Kritik.
Wie sinnvoll ist die Frauenquote? Oder wäre es nicht sinnvoller, allein die persönlichen Fähigkeiten zum Auswahlkriterium für eine Stelle zu machen?
Kraft: Wenn das so wäre, dann wäre es ja in Ordnung. Aber leider ist es nicht so. Denn anders kann man es ja nicht erklären, dass Frauen die besten Abschlüsse machen, aber sie irgendwann an eine gläserne Decke stoßen, wenn es um Positionen ganz oben geht. Wir haben es jetzt lange mit Freiwilligkeit probiert, aber das hilft erkennbar nicht.
Yannick (19): Die Politikverdrossenheit ist sehr groß. In meiner Generation interessieren sich die wenigsten für Politik. Wo liegen die Hauptgründe, und was wollen Sie dagegen tun?
Nahles: In meinem Abiturjahrgang waren wir auch nur drei, die sich wirklich politisch aktiv geoutet haben. Das war 1989. Und es ist nicht besser geworden. Wir versuchen, junge Leute auf den Kanälen zu erreichen, die sie nutzen. Facebook etwa. Und zweitens: Wir wollen Angebote machen, zum Beispiel eine Mietpreisbremse. Gerade in Universitätsstädten sind die Mietpreise viel zu hoch. Wir wollen auch das Bafög dynamisieren. Das wird immer nur alle sieben bis acht Jahre mal angepasst. Die Lebenshaltungskosten steigen aber schneller. Und zuletzt: Wir als SPD haben uns vorgenommen, gerade auf die Unentschlossenen und Skeptischen zuzugehen. Wir machen fünf Millionen Hausbesuche, von Tür zu Tür. Wir wollen dahin gehen, wo die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist.
Kraft: Ich sehe das gar nicht so dramatisch. Ich finde, dass viele interessiert sind, wenn es um konkrete Themen geht. Etwa die Geschichte mit Edward Snowden - das ist Politik und bewegt junge Menschen. Oder wenn wieder Rechtsextreme vor Asylbewerberunterkünften stehen wie jetzt in Berlin, dann sind es erkennbar auch viele junge Leute, die dagegenhalten und den Rechtsstaat und die Demokratie verteidigen. Ich bin gar nicht so mutlos.
Wie sind Sie mit Politik in Berührung gekommen?
Kraft: Ich war schon immer ein politischer Mensch. Ich habe mein Studium mit Arbeiten verdient und habe ziemlich intensiv Sport betrieben. Und irgendwann, wenn man merkt, wie wichtig Politik ist, wenn man sich ärgert und Dinge verbessern will, dann macht man auch bei Politik mit.
Nahles: Ich habe mich auch erst mit 18 politisiert, nicht schon mit 16, und habe dann mit 19 den Schritt in die Politik gemacht - genau das richtige Alter.
Haben Sie politische Vorbilder, zu denen Sie aufblicken können?
Kraft: Klassische Vorbilder nicht. Aber ich bin gerade in diesem Jahr unheimlich stolz auf diese 150 Jahre Sozialdemokratie, die wir feiern. Wenn man in einen Ortsverein fährt, der sein 100-jähriges Bestehen feiert, und wenn man sieht, unter welch schwierigen Bedingungen unsere Mitglieder gekämpft und oft sogar ihr Leben gegeben haben für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität: Das ist für uns eine Verpflichtung, das macht mich stolz. Und das Zweite ist: Ich habe mal versucht, so zu reden wie Gerhard Schröder!
Nahles (lacht): Das kann ich mir irgendwie gar nicht vorstellen …
Kraft: Das hat auch nicht geklappt. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich gemerkt habe: Du musst einfach reden wie Hannelore Kraft. Politik muss mit dem zu tun haben, wer du bist, dann ist sie auch glaubwürdiger.
Nahles: Mein Vorbild ist nicht Willy Brandt, sondern Helmut Kollig aus Kottenheim. Er war einer meiner Lehrer an der Realschule für Deutsch und Geschichte. Und gleichzeitig ein Riesenkarnevalist, der auf der Kottenheimer Karnevalsbühne brillierte. Er hat uns vermittelt, ernsthaft für mehr Demokratie einzustehen, aber trotzdem viel Spaß zu haben. Willy Brandt habe ich nicht persönlich gekannt. Aber Kollig habe ich gekannt, und den fand ich überzeugend. Es ist oft nicht die große Figur, jedenfalls war sie es nicht bei mir, sondern es sind konkrete Leute, die du kennenlernst und die dir etwas bedeuten, die zu Vorbildern werden.
Floraluisa (18): Ist es schwieriger, sich als Frau in der Politik durchzusetzen?
Nahles: Ich würde sagen: Ja!
Kraft: Wir Frauen haben Vor- und wir haben Nachteile in der Politik. Als Frau kannst du leichter auch mal Gefühle zeigen. Männer haben es da schwerer. Bei Peer Steinbrück konnte man sehen, dass das sofort Riesenschlagzeilen verursacht, wenn er emotional reagiert. Ich habe früher Unternehmensberatung gemacht, da ist man auch immer in einem männlichen Umfeld. Um sich zu behaupten, muss man die männliche Kommunikation, die Körpersprache, die Argumentationstechnik kennen. Das konnte ich später in der Politik gut gebrauchen.
Nahles: Ich war die erste Frau im Gemeinderat Weiler. Und ich weiß noch, dass sie sich dort gefragt haben, ob sie die Kiste Bier wie bisher in die Mitte des Raumes stellen können, wenn ich dazukomme (lacht). Nachher auf Bundesebene war es leichter, da waren Frauen in der Politik selbstverständlicher.
Würden Sie gern am politischen System in Deutschland etwas verändern? Beispielsweise mehr Direktdemokratie einführen?
Nahles: Ich finde, eine Legislaturperiode von fünf Jahren, wie wir sie in den Ländern haben, wäre auch auf Bundesebene gut. Wenn man eine größere Reform macht, braucht man schon mal zwei, drei Jahre. Und wir kämpfen seit Jahren für einen Volksentscheid auch auf Bundesebene. Die SPD hat zusammen mit den Grünen zweimal einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Es braucht aber eine Zweidrittelmehrheit, um die Verfassung zu ändern - dieses Quorum haben wir leider nie erreicht.
Kraft: Das Wahlrecht würde ich gern verändern. Wir wollen in NRW das Wahlalter auf 16 senken. Und wir sind für ein Wahlrecht gerade auf kommunaler Ebene für diejenigen, die schon lange Zeit bei uns leben, damit sie mitentscheiden können, auch wenn sie einen anderen Pass haben. Direkte Demokratie birgt auch Risiken. Wer macht eine Kampagne und wer bezahlt sie? Wenn sich am Ende eher die mit viel Geld durchsetzen können, ist demokratisch auch nicht alles im grünen Bereich.
Worauf muss sich ein 20-Jähriger heute gefasst machen für die Zukunft?
Nahles: Es wird in Zukunft leichter möglich sein, einen Arbeitsplatz zu finden und Arbeitgeber, die bereit sind, ein Stück weit auf die persönliche Lebenssituation einzugehen, weil wir Fachkräfte dringend brauchen. Ich glaube, dass sich die Stellung von Arbeitnehmern tendenziell verbessert. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass es wahrscheinlich trotzdem gleichzeitig Millionen Menschen geben wird, die keine Arbeit haben, weil sie - an welchem Punkt auch immer in ihrem Leben - nicht mitgekommen sind, keinen Berufs- oder Schulabschluss haben. Deswegen sehe ich die Aufgabe politisch darin, alle mitzunehmen und keinen zurückzulassen.
Also sind Sie da eher pessimistisch?
Nahles: Nein. Ich könnte mir vorstellen, dass angesichts des demografischen Wandels Gemeinsinn, Gemeinschaft und Nachbarschaft wieder mehr gefragt sind. Die Gesellschaft wird solidarischer werden müssen. Das ist meine Hoffnung. Ich denke nicht in Schreckensszenarien, wenn ich an die Zukunft denke.